Neuordnung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs – Paradigmenwechsel
Das Bundeskabinett hat am 12.08.2015 den Entwurf des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) beschlossen. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) legte die große Koalition den 2. Teil einer umfassenden Pflegereform vor, die mit dem 1. Pflegestärkungsgesetz (PSG I) im Jahr 2014 eingeleitet wurde (das PSG I ist mit Wirkung zum 01.01.2015 in Kraft getreten).
Kernstück des 2. Pflegestärkungsgesetzes ist die gesetzlich verbindliche Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum 1. Januar 2017. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff soll die bisherige Benachteiligung von Personen mit kognitiven Einschränkungen beseitigt werden.
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist derzeit folgendermaßen ausgestaltet: Personen bedürfen in erheblichem oder höherem Maße (Pflegestufen I, II oder III) der Hilfe. Der Auslöser, warum diese Personen Hilfe in Anspruch nehmen müssen, ist eine körperliche, geistige oder seelische Krankheit oder Behinderung. Die Art und der Umfang der Hilfestellungen gilt für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens (Verrichtungen aus den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität). Dieser Anspruch auf Hilfebedarf muss zwingender Weise für einen Zeitraum von voraussichtlich mindestens 6 Monaten bestehen. Die Frist von voraussichtlich mindestens 6 Monaten beginnt im Übrigen nicht mit dem Datum einer Antragstellung oder einer Begutachtung, sondern mit dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit.
Beachte: Sollten Versicherte zum Beispiel aus Gründen einer Unkenntnis über das Verfahren einen Antrag auf Einstufung bzw. Höherstufung nicht rechtzeitig gestellt haben, so hat ein Gutachter im Rahmen der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit die Voraussetzungen für eben diese auch retrospektiv mit zu berücksichtigen.
Dem vorgenannten Kabinettsentwurf PSG II zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff entsprechend ist ab dem 1. Januar 2017 Folgendes bezogen auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu berücksichtigen: Personen gelten dann als pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten aufweisen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Auch zukünftig gilt, dass die Pflegebedürftigkeit voraussichtlich für mindestens 6 Monate bestehen muss, vgl. § 14 Abs.1 SGB XI neue Fassung/n.F. (Bundeskabinettsentwurf PSG II).
Der Paradigmenwechsel hinsichtlich des Pflegebedürftigkeitsbegriffs besteht in folgender Weise:
Bislang ist die Pflegebedürftigkeit bei dem einzelnen Versicherten individuell darüber zu ermitteln, dass verschiedenen einzelnen Verrichtungen aus den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität sowie hauswirtschaftlicher Versorgung individuelle Zeitwerte zugeordnet werden müssen. Aus der Summe aller Zeitwerte in den verschiedenen Bereichen ist die Höhe der Pflegestufe abzuleiten.
Anders als bisher sprechen wir bei dem vorgenannten Gesetzesentwurf nicht mehr von 3 Pflegestufen, sondern von 5 Pflegegraden. Für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit des jeweiligen Versicherten und die Eingruppierung in einen der neuen Pflegegrade wird ein „Neues Begutachtungs-Assessment“ (NBA) eingeführt. Bei dem NBA ist künftig der Grad der Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen ausschlaggebend, neben pflegerischen Verrichtungen sind zukünftig auch weitere Faktoren Bestandteil des zukünftigen Bewertungsverfahrens.
Nach den aktuellen Begutachtungsrichtlinien wird die Pflegebedürftigkeit eines einzelnen Versicherten im Wesentlichen darüber ermittelt, bei welchen Verrichtungen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) er in welchem zeitlichen Umfang Unterstützung durch eine Pflegeperson bzw. Pflegekraft benötigt. Nur im ambulanten Bereich gilt es bislang (voraussichtlich bis zum 31.12.2016) darüber hinaus, Zeitwerte für die hauswirtschaftliche Versorgung zu ermitteln, um die Berechtigung für die Bescheidung einer Pflegestufe (und auch in der jeweiligen Höhe der Pflegestufe) belegen zu können.
Im Rahmen des vorgenannten Kabinettsentwurfs ist vorgesehen, abweichend von den bisherigen 3 Bereichen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) zukünftig 6 Bereiche inhaltlich prüfen zu lassen.
Die 6 Bereiche gemäß § 14 Abs. 2 SGB XI n. F./ (Bundeskabinettsentwurf PSG II) sind:
1. Mobilität, 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten, 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 4. Selbstversorgung, 5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug auf … (gemeint sind hier im Wesentlichen behandlungspflegerische Leistungen), und 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
Die Maßstäbe für das Ermitteln der jeweiligen Pflegegrade sind Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und Fähigkeiten. Die Beurteilung ist mit Hilfe einer Prüfanleitung (NBA) vorzunehmen. Dieses Begutachtungsinstrument (NBA) ist in 6 Module gegliedert. Diese 6 Module entsprechen den 6 Bereichen der Pflegebedürftigkeit (vergleiche Paragraph 14 Abs. 2 SGB XI im Bundeskabinettsentwurf zum PSG II). In jedem Modul sind den Kategorien pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zuzuordnen. Es sind entsprechend der Prüfanleitung Punkte auf die 6 Module zu verteilen.
Innerhalb dieser einzelnen Module sind (gemäß § 15 Abs. 2 Satz 6 Ziffern 1 – 5 SGB XI n. F. (Bundeskabinettsentwurf PSG II) die Punkte einem von 5 Punktbereichen (von „keine Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten“ bis hin zu „umfassenden Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten“) zuzuordnen.
Die Module ihrerseits haben durch den Gesetzgeber gemäß § 15 Abs. 2 Satz 8 Ziffern 1 – 5 SGB XI n. F. (Bundeskabinettsentwurf PSG II) eine Gewichtung im Sinne einer prozentualen Abstufung erfahren: So ist das 1. Modul (Mobilität) mit 10 % gewichtet. Das 2. und 3. Modul (kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) erhalten gemeinsam 15 %. Das 4. Modul (Selbstversorgung) bekommt mit 40 % den größten Anteil zugeordnet. Das 5. Modul (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) umfasst 20 % der Gesamtgewichtung. Auf das 6. Modul (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) entfallen schlussendlich 15 %.
Der Grad der Pflegebedürftigkeit wird letzten Endes gemäß § 15 Abs. 3 Satz 4 Ziffern 1 – 5 SGB XI n. F. (Bundeskabinettsentwurf PSG II) über die Gesamtanzahl der ermittelten Punktwerte berechnet: 1. Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (12,5 bis unter 27 Punkte), 2. Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (27 bis unter 47,5 Punkte), 3. Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (47,5 bis unter 70 Punkte), 4. Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (70 bis unter 90 Punkte), 5. Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (90 bis 100 Punkte).
Nach wie vor gilt, dass behandlungspflegerische Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Bemessung des pflegerischen Umfangs gemäß der §§ 14, 15 SGB XI n.F. (Bundeskabinettsentwurf zum PSG II) hinzuzurechnen sind. Die Voraussetzungen sind, dass die behandlungspflegerischen Maßnahmen zwingend in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit pflegerischen Maßnahmen (zukünftig aus einem der 6 Bereiche) durchgeführt werden müssen.
Spezifische Besonderheiten bei der Begutachtung von Kindern sind dem § 15 Abs. 6 und 7 SGB XI n. F. (Bundeskabinettsentwurf zum PSG II) zu entnehmen.
Das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI n. F. (Bundeskabinettsentwurf zum PSG II) ist im Wesentlichen unverändert geblieben. Anders als bisher wird aber das jeweilige Gutachten zusammen mit dem Bescheid an den Antragsteller übermittelt, sofern der Antragsteller einer Übersendung nicht widersprochen hat. Darüber hinaus wurde im § 18 SGB XI n. F. der Absatz 5a eingefügt. Im Absatz 5a ist (dort) niedergelegt, dass der Umfang der Begutachtung dahingehend erweitert wird, dass der Gutachter zusätzlich zur Ermittlung des pflegerischen Hilfebedarfs eine umfassende Beratung (eventuell in Kombination mit dem Erstellen eines individuellen Versorgungsplans nach § 7a SGB XI) für das sachgerechte Erbringen von Hilfen zu erstellen hat.
Der aktuellen Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit ist Folgendes zu entnehmen: „Wer bereits Leistungen der Pflegeversicherung bezieht, wird per Gesetz automatisch in das neue System übergeleitet. Niemand muss einen neuen Antrag auf Begutachtung stellen. So wird für die Betroffenen unnötiger zusätzlicher Aufwand vermieden. Dabei gilt: Alle, die bereits Leistungen von der Pflegeversicherung erhalten, erhalten diese auch weiterhin mindestens in gleichem Umfang, die allermeisten erhalten sogar deutlich mehr.“
(http://www.bmg.bund.de/ministerium/meldungen/2015/pflegestaerkungsgesetz-ii.html, 01.09.15).
Aus den vorgenannten Änderungen des SGB XI resultieren neue zusätzliche Anforderungen für Unternehmen der Alten- und Pflegehilfe sowohl hinsichtlich der Konzeption und Gestaltung ihrer Pflegedokumentation als auch hinsichtlich der besonderen fachlichen Qualifikation einzelner Mitarbeiter im Unternehmen. Anders als bis heute sind nicht nur Anzahl und individueller Zeitwert der pflegerischen Verrichtungen der Grundpflege gegenüber einem Gutachter in Begutachtungsverfahren zu äußern, sondern zukünftig darüber hinaus sind auch Informationen über spezifische Verhaltensweisen von Pflegebedürftigen zu vermitteln. Hierzu bedarf es in entsprechenden Konstellationen besonderer fachlicher Qualifikationen auf Seiten der Pflegekräfte (z.B. einzelne ausgewählte Mitarbeiter im Sinne einer Fachausbildung Psychiatrie bzw. Gerontopsychiatrie zu qualifizieren), um auch psychische Krankheitsbilder von Pflegebedürftigen angemessen einschätzen und dokumentieren zu können. Um wiederum diese Anforderungen bewältigen zu können, sollte ein Unternehmen der Alten- und Pflegehilfe sich frühzeitig mit den neuen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Anforderungen vertraut machen.
Bei dem Vorgenannten handelt es sich um grundlegende, allgemeine, juristische Ausführungen, die eine individuelle, zwingend erforderliche (Rechts-)Beratung nicht ersetzen können.
Autoren:
Holger Biemann
Qualitätsmanager + TQM-Auditor (zertifiziert)
Philipp Graf von und zu Egloffstein
Rechtsanwalt